Die Pilzsammlerin

Ein Stralsund-Krimi von Peter Hoffmann

Gudrun Treptow ist frühmorgens immer die Erste in ihrem Rügener Pilzwald. Und wehe, wenn nicht. Die vom Leben nicht gerade verwöhnte Supermarkt-Verkäuferin macht eines schönen Septembertags eine überaus interessante Entdeckung, die ihr Leben verändert: Ungeahnte tödliche Möglichkeiten eröffnen sich …

Peter Hoffmann
Die Pilzsammlerin – Ein Stralsund-Krimi
Titelfoto Volkmar Herre
2. Überarbeitete Neuauflage, Stralsund 2008, 135 Seiten, Paperback, 19 x 12,5 cm
ISBN 978-3-941093-00-3

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Im Vorübergehen fiel ihr Blick auf etwas Orangenes, das sich unter einer Buche ausbreitete. Sie rückte ihre Brille zurecht und ging näher heran. Eine große, eine riesige Kolonie orangener Pilze von einiger Größe. Eine Sorte, die sie tatsächlich nicht kannte! Gudrun stellte das Körbchen ab und kramte in den Taschen ihrer weiten Cord-Jacke nach dem Bestimmungsbuch, das jeder ernsthafte Sammler zur Sicherheit stets bei sich führt. Unter ein paar Plastetüten – für alle Fälle – wurde sie fündig. Sie hockte sich neben die Pilze. Nach einigem Blättern fand sie das passende Foto. Sie las: »Orangefuchsiger Raukopf, Cortinarius (Leprocybe) orellanus. Merkmale: Hut bis etwa 6 (8) cm breit, jung gewölbt, später flacher mit breitem Buckel, trocken, jung samtig, dann fein filzig bis angedrückt schuppig, orangefuchsig bis rostbräunlich. Spinnwebartige gelbliche Reste einer Cortina (›Schleier‹) verraten zusammen mit dem rostbraunen Sporenpulver den ›Schleierling‹ (Cortinarius).« Gudrun verglich die beschriebenen Merkmale sorgfältig mit ihrem Fund. Stimmte alles überein. Schleierling oder Schleierlingsverwandter? Durch diese Systematik steige einer durch. Sie las weiter: »Diese große Lamellenpilzgattung umfasst allein in Mitteleuropa mehrere hundert Arten. Lamellen am Stiel mehr oder weniger ausgeprägt ausgebuchtet angewachsen, unregelmäßig untermischt, eher weit stehend, bauchig, Schneiden uneben bis schartig; jung zimtorange, älter rostbräunlich. Stiel bis etwa 8 cm lang, 0,5 – 1,5 cm dick, zylindrisch; Basis bisweilen leicht verdickt, aber spitz zulaufend; älter hohl; matt messingfarben, rotbräunlich überfasert. Fleisch blass gelblich, im unteren Stiel leicht bräunlich. Geruch schwach rettichartig, Geschmack mild.« Stimmte alles. Den Geschmack müsste man dann zubereitet sehen. Gudrun legte das Büchlein beiseite und roch an einem der Pilze, den sie mit kundiger Hand herausgelöst hatte und nun eingehend begutachtete. Diese Sorte war ihr noch nie aufgefallen.

             Eher beiläufig warf sie einen Blick auf das nächste Stichwort im Bestimmungsbuch. »Speisewert: Der Orangefuchsige Raukopf ist tödlich giftig!« Gudrun erschrak, die Wangen wurden ihr warm. Fasziniert las sie weiter: »Er enthält ein Gift, das unter der Bezeichnung ›Orellanin‹ bekannt ist und vor allem die Nieren schädigt.« Gudrun schauderte. Sie wusste zwar von Fliegen- und Pantherpilzen sowie von den tödlichen Knollenblätterpilzen. Und von bestimmten Tintlingen, bei denen man mit dem Genuss von Alkohol vorsichtig sein musste, sonst bekam man vorübergehend Herzrasen und einiges andere mehr, vor allem aber einen heftig geröteten Kopf. Das hatte sie eher amüsiert. Um giftige Pilze hatte sie sich bislang eigentlich nie näher gekümmert. Die Exoten waren halt Exoten, da kam man nicht ran. Und die heimischen Sorten waren ihr immer vorgekommen wie etwas aus einem Märchen aus uralten Zeiten. Fehlte nur noch das Hexenhäuschen mit dem Backofen: ›Wollt´ ihn braten braun wie Brot …‹ Gudruns Lieblingsstelle. Schon als Kind.

             Gudrun fuhr fort. »Vorkommen: Mykorrhizapilz von Laubbäumen, besonders von Buche und Eiche, nach Literaturangaben auch unter Kiefern. Eine Lebensgemeinschaft zwischen den Wurzeln und den Pilzen: Mykorrhizapilze leben in Symbiose mit Bäumen und sind entsprechend wertvolle Bestandteile des Ökosystems Wald.« Gudrun fragte sich, was die Pilze eigentlich für die Bäume taten. Im Gegenzug dafür, dass diese ihnen Lebensraum boten. Musste sie mal nachschlagen.

             Sie bewunderte die perfekte Anpassung der Pilze an ihre Umgebung. So unscheinbar eigentlich, aber auch so wehrhaft mitunter. Und die meisten Menschen sahen sie nicht einmal! Mit unterirdischen Myzelgeflechten, wer weiß wie alt und wie mächtig. Wie alt wurden eigentlich Pilze? Konnte man das überhaupt so eindeutig sagen? Das führte jetzt zu weit. Sie schüttelte den Kopf und las weiter zu den Abbildungen: »In Mitteleuropa vereinzelt vorkommend, häufiger in wärmebegünstigten Gebieten. Wissenswertes: Die Untergattung der Rauköpfe Leprocybe ist durch trockene, feinfilzige bis faserschuppige Hüte, trockene Stiele sowie gelbe bis rostbraune Lamellen gekennzeichnet. Ähnlich: Der Spitzbuckelige Raukopf, eine häufige Art sauberer Bergnadelwälder, ist spitz gebuckelt, sein Stiel natternartig gekennzeichnet. Ebenfalls hochgradig giftig.
Und so weiter  …« Sie überschlug einige Zeilen. » Beide Rauköpfe sind von unvorsichtigen Pilzsammlern mit dem Hallimasch und sogar mit Pfifferlingen verwechselt worden.« Laien, befand Gudrun.
Der Orangefuchsige Raukopf war Pilz des Jahres 2002 gewesen. Sieh an. 2002. Auch schon eine ganze Weile her. Wort des Jahres. Unwort des Jahres. Tier des Jahres. Pilz des Jahres. Daran erinnerte sich doch kein Mensch. Wer legte so was eigentlich immer fest? Hatten die nichts anderes zu tun?

             Gudrun blickte um sich. Sie war ganz allein im Wald.