Die Fischhändlerin

Dunkle Geheimnisse, abgründige Leidenschaften und eine Leiche im Keller: Die Fischhändlerin Marlene Düsterbehn aus der Stralsunder Frankenstraße hat allerhand zu verbergen. Ein grausiger Fund im Saal des verfallenen Schlosses Rantzow bringt die Polizei auf ihre Spur. Findet Marlene einen Ausweg?

Der nunmehr dritte Stralsund-Krimi aus dem STRANDLÄUFER Verlag verspricht nicht nur ein Wiedersehen mit »alten Bekannten«, sondern auch erneut spannende Unterhaltung für daheim und unterwegs.

Peter und Katrin Hoffmann
Die Fischhändlerin – Ein Stralsund-Krimi
1. Auflage Stralsund 2010, 218 Seiten, Paperback, 19 x 12,5 cm
ISBN 978-3-941093-08-9

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             »Der Frühling zündet die Kerzen an … in den grünen Kastanienkronen …« Marlene Düsterbehn ging dieses Lied nicht aus dem Kopf. Singe-Club »Roter Oktober«. Du meine Güte, das waren noch Zeiten gewesen. Gruselig eigentlich, Ewigkeiten war das her. »… und die Wiesen sind gelb von Löwenzahn … und rot von Anemonen.« Stufe für Stufe wuchtete sie ihre Last aufwärts. Sie wusste umzugehen mit dieser Art von Sackkarre. Geniale Konstruktion. Da hatte ihr Alter doch mal etwas Sinnvolles angeschafft. Nur hatte er nun nichts mehr davon. Tja, so spielte das Leben. Eben. Reim dich oder ich fress dich. Ganze Treppen konnte man mit dieser raffinierten Karre überwinden. Ziemlich mühelos. Wenn denn die Treppen exakt irgendwelchen DIN-Maßen entsprachen. Mit etwas Geschick und Übung war auch dieses alte, einstmals hochherrschaftliche Treppenhaus kein Problem. Trotzdem rann Marlene Düsterbehn der Schweiß in Strömen über Gesicht und Rücken. Der Frühling war mit Macht übers Land gekommen. Draußen stand nach dem Gewitterguss vom Abend die Feuchtigkeit in der Luft. Es tropfte von den Büschen und Bäumen, das Wasser sammelte sich in großen Pfützen. Hinter dicken Wolken schob sich ein prächtiger Vollmond hervor. Die rückwärtige Zufahrt war auf dem letzten Teil nach dem Plattenweg kaum passierbar gewesen. Marlene hatte mit dem klapprigen Lieferwagen mehrmals aufgesetzt, dass ihr angst und bange wurde, womöglich mit ihrer alten Rostlaube und der fatalen Fracht darin stecken zu bleiben.

             Sie ruckte die Karre über die nächste Stufenkante. Das morsche Holz gab nach, die ganze Angelegenheit bekam das Rutschen. Marlene packte ordentlich zu. Wenn Marlene etwas konnte, dann war das zupacken. Das hatte sogar ihre Schwiegermutter anerkennen müssen, die alte Hexe. Eine Fischhändlerin musste zupacken können. Die Gurte sollten eigentlich halten, so wie sie die festgezurrt hatte. Geschickt verlagerte Marlene ihr Gewicht. Und sie hatte einiges davon zu verlagern. Vorsichtig lehnte sie sich hintenüber. Die ausgetretenen Stufen knarrten, herabgefallener Putz zerbröselte unter ihren schweren Gummistiefeln. Sie zog mit einem Ruck die Karre weiter nach oben. Holz krachte, aber sie war über die störrische Stufe hinweg. Kurzes Atemholen. »Am Abend tollt ein junger Wind, bläst in die Apfelblüten …« Sie war seltsam guter Dinge. Es war dieser Ort, es war schon immer dieser Ort gewesen. Das Schloss. Ihrer Mutter war es ja immer nur unheimlich. Aber darum hatte sie sich schon damals nicht gekümmert. Wer hörte schon auf seine Mutter? Weiter ging’s. »… die schnein auf die, die mürrisch sind …« Und noch eine Stufe. »… und immer Trübsal brüten.«

             Wie oft war sie diese Treppe schon hinaufgestiegen. Links und dann rechts um die Ecke: Dort hatte Thomas gewohnt. Thomas, den sie küsste, als sie sich heimlich von ihrer beider Jugendweihe-Feier unten im Anbau hier nach oben verdrückt hatten. Thomas schmeckte nach Sekt. Rotkäppchen-Sekt. Bei Rotkäppchen-Sekt musste Marlene seither immer an Thomas denken. Ein hübscher Junge. Was war wohl aus ihm geworden? Für Marlene blieb Thomas stets der Bursche von damals. Thomas und seine Mutter hatten für kurze Zeit, für ein paar Monate nur, ein Zimmer unter dem Dach des Herrenhauses bezogen, nachdem die alten Telschows aus Ostpreußen schließlich rausgestorben waren. Der alte Herr Telschow war wohl Mechaniker gewesen und richtete zuweilen noch die Traktoren von der LPG. Zum Schluss muss irgendetwas mit ihrem Sohn passiert sein. Man munkelte da so allerlei. Die alte Frau Telschow hatte ohnehin kaum je ein Wort gesprochen. Thomas war dann plötzlich auch wieder weg, zusammen mit seiner Mutter nach Magdeburg, wo sie einen Mann kennengelernt hatte. Dann zogen neue Bewohner in die Dachkammer ein. Marlene dachte an die behagliche Wärme, die der kleine Ofen in der Wandnische im Winter ausgestrahlt hatte. Inzwischen erinnerten nur noch eine rußige Öffnung am Schornstein sowie ein paar zerschlagene Kacheln an die Heimeligkeit damaliger Winterzeiten. Trotzdem: Menschen kamen und gingen. Aber Schloss Rantzow, ihr Schloss, das blieb.

             Wie oft hatte sie sich schon als junges Ding in das Schloss hineingeträumt! Wie es wohl dort einst ausgesehen haben mochte? Wer hatte dort gelebt? Was mussten das für Menschen gewesen sein, die sich einen Festsaal, eine eigene Bibliothek, eine verglaste Loggia bauten? Wie musste es zugegangen sein in der großen Küche im Souterrain? Was hatte alles im Keller gelagert? Dienstbotenkämmerchen unter dem Dach, der Marstall an der Auffahrt, Pferde und Kutschen. Die Allee, der Park, die kleine Kapelle, die damals noch darin gestanden hatte. Heute wucherte gleich daneben auf dem winzigen Friedhof Unkraut über die schweren Grabplatten der Erbauer von Schloss Rantzow mit dero morschen Gebeinen darunter. Da halfen keine sporadischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Binnen Jahresfrist eroberte sich die Natur ihr Terrain zurück. Da musste man dranbleiben, hatte ihr Vater immer gesagt, jeden Tag. Ja, ihr Vater, der hatte das Schloss im Griff gehabt. Hatte sich als »Mädchen für alles« um das Haus und den Park gekümmert, für all die Kleinigkeiten gesorgt, die eben jeden Tag so anfielen. Für das Große waren andere zuständig, das ging ihn nichts an, wie er immer gesagt hatte. Gut, die Zeiten waren nicht danach gewesen, das Schloss so zu erhalten, wie es das verdient gehabt hätte. Aber es war immerhin bewohnt. Bewohnt von mehr Menschen als wohl zu seinen besten Zeiten. Und es gab keine Herrschaften mehr und keine Bediensteten. Alle waren nun gleich. Mehr oder weniger. Ihr Vater, das Faktotum, der von allen belächelt wurde, wenn er sich selbst als Hausmeister bezeichnete, obwohl er alle Aufgaben eines Hausmeisters trefflich erfüllte, fühlte sich in der Tat ein bisschen wie ein Schlossherr. Zumindest nahm er seine Verantwortung sehr ernst. Sein Improvisationstalent half, das Schloss am Leben zu erhalten, da war er schon längst Rentner. Ein bisschen schrullig, nun gut. Aber die LPG-Leitung wusste, was sie an ihm hatte und ließ ihn gewähren. Der Anbau auf der ehemaligen Terrasse zum Garten hin war nicht seine Idee gewesen. Irgendwo musste schließlich ein Platz geschaffen werden zum Feiern für die Dorfbevölkerung und die Angestellten der riesigen Rindermast-Anlage, die sich unmittelbar neben dem Schlossgelände angesiedelt hatte. Die kleine Bühne, die sie anstelle des Kirchleins errichten wollten, war allerdings niemals fertig geworden. Man musste heute noch aufpassen, nicht in die Senke zu fallen, die die Aushubstelle für das Fundament unter üppigen Brombeerbüschen immer noch bildete.

             Als Kind hatte Marlene oft ihre Eltern bei der Gartenarbeit im Park begleitet. Mit den Fingerspitzen war sie die Inschriften auf dem rauen Stein der Grabplatten nachgefahren: »Hier ruhet in Ewigkeit sanft im Glauben an Gott der Graf Hubert Wilhelm Adalbert von Palitz, Erbherr auf Rantzow, 1822-1893.« Die zweite Inschrift erinnerte an seine Frau Henriette Sophie Ottilie von Palitz, geborene von Rumpendorff, 1856-1880. Die Gräfin von Palitz war so viel jünger als der Graf gewesen und so viel früher gestorben. Was mochte da nur vorgefallen sein? Marlene hatte sich immer wieder neue Geschichten zur damaligen Zeit ausgedacht. Henriette Sophie Ottilie wurde ihr dabei zu einer imaginären Freundin, mit der sie sich in das – in ihr – Schloss zu seiner Blütezeit fortträumte. Ihre Mutter schalt sie wegen solcher Flausen. Aber unter ihrem Regiment wäre es undenkbar gewesen, die Gräber derart verwildern zu lassen. Ob die mächtigen Platanen, die diesen Teil des Parkes beschatteten, bereits damals hier gestanden hatten?

             Jugendweihe, Schulabschluss, 18. Geburtstag, die Hochzeit, immer wieder Feste. Stets war Schloss Rantzow die Kulisse für die Höhepunkte ihres Lebens gewesen. Mit etwas Fantasie und besonders abends sah man damals den Verfall noch nicht so deutlich. Hier in diesem vornehmen Rahmen fühlte sie sich schön, hier gehörte sie eigentlich hin. Da hatten sie auch ihre Eltern und später ihr Mann nicht wirklich gestört. Sie hatte sie einfach ausgeblendet. Und Kurt Düsterbehn war ohnehin zumeist bald derart betrunken gewesen, dass er nichts mehr mitbekam. Für Mutter Düsterbehn war selbst Rantzow eh nie fein genug gewesen. Die vielen Menschen unter dem Dach des Schlosses, die kleinen Häuschen für die Neubauern drum herum, überhaupt dieses ganze Landleben. Nein, das passte ihr nicht. Einmal waren die alten Düsterbehns zum Antrittsbesuch rausgefahren und dann nie wieder. Mutter Düsterbehn hatte wegen des Stallgeruchs vor Naserümpfen kaum atmen können. Und das von einer Fischhändlerin … Nicht mal zur Hochzeit war ihre Schwiegermutter nach Rantzow gekommen. Hatte mal wieder mit ihrem ach so schlimmen Rücken in der Frankenstraße das Bett hüten müssen. Nicht, dass sie einer tatsächlich vermisst hätte, die alte Hexe.

             »Die Kerle, die kein Frühling weckt, die sollte der Teufel holen …« Marlene war mit ihrer Fracht auf dem oberen Treppenabsatz angelangt. All diese Dinge waren ihr bei der Plackerei durch den Kopf gegangen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und dachte mit Sehnsucht an eine ausgiebige Dusche. Und überhaupt, dieses Lied, sie bekam es nicht aus ihrem Kopf, das würde jetzt die ganze Nacht so weitergehen. Von wem war das bloß? … Richtig, von Louis Fürnberg. Den kannte heute auch keiner mehr. Schon lange tot. Wo hatte sie den nur wieder hergekramt? Die Partei, die Partei, die hat immer recht. Schisschen. Was man nicht alles im Kopf hatte, unglaublich. Wozu brauchte man das? Konnte man so was nicht einfach vergessen? »Und weckt diese Kerle kein Blütengeflock, wird sie auch der Sommer nicht lohnen …« Schönes Lied. Die Kastanienblüten am Knieperdamm hatten sie drauf gebracht. Die brachten sie jedes Jahr darauf. Blühten die Kastanien am Knieperdamm, dann war richtig Frühling in der Stadt.

            Schnaufend und schwitzend bugsierte Marlene Düsterbehn das in dicke Plastikfolie gewickelte Bündel in die verfallene Pracht des großen Saales im ersten Obergeschoss. Ihr Stimmungshoch konnte nicht länger darüber hinwegtäuschen, dass sie körperlich am Ende war. Der Raum war nur noch ein Schatten seiner selbst, aber er hatte Atmosphäre. Seiner eigentümlichen Vornehmheit hatten die Zeitläufe wenig anhaben können. Marlene wusste, hier war sie richtig. »… und rauscht es in unserem Bienenstock, so enden sie wie die Drohnen.« Mit einem Ruck stellte sie die Karre neben der Flügeltür ab, arretierte den Feststellhebel. Ja, das war die einzig angemessene Stelle, das hatte sie gleich vor ihrem geistigen Auge gesehen, kein Zweifel. An der Wand lag ein Stück Teppichboden. Marlene rollte ihn mit den Stiefeln aus. Perfekt! Sie löste die Gurte, ließ das Plastikbündel vorsichtig auf den staubigen Boden rutschen und schleifte es das Stückchen an die Wand, richtete es unter einigem Kraftaufwand zur Hälfte auf und lehnte es dagegen. Die Geräusche, die das Bündel dabei von sich gab, waren nicht schön. Manches brauchte zum Auftauen eben etwas länger. Mit schmerzendem Rücken kam Marlene hoch. Beinahe wäre ihr schwarz vor Augen geworden, aber sie fing sich wieder. Aus ihrer Schürzentasche angelte sie den Cutter. Gar nicht so einfach mit den Gummihandschuhen. Das man auch immer so schwitzen musste in den Dingern. Sorgsam begann sie, die Folie aufzuschneiden, die Klebebänder zu durchtrennen. Nun kam der künstlerische Teil, die Kür sozusagen. Was hatte sie nicht unten im Anbau für schöne Feste dekoriert! All die Lampions, die Girlanden … Für ihre Feste hatten sie alle geliebt. Fasching. Sie stets als fesche Lola. Mit Zylinder und Zigarettenspitze. Alles eine Frage von Stil und Niveau.

             Marlene war mit ihrem Werk zufrieden. Erstaunlich, was so ein paar Äußerlichkeiten doch bewirken konnten. Sie zupfte die rosa Krawatte noch ein bisschen zurecht. Mühsam richtete sie sich auf. Jetzt bloß keinen Hexenschuss! Geschmack musste man haben. Geschmack hatte man. Oder eben nicht. Geschmack ist eine Gabe, Geschmack kann man nicht lernen. Hatte schon ihre Chefin gesagt, damals im HO-Kaufhaus am Ring in der Tribseer Vorstadt in Stralsund. In der Stadt! Und die Chefin war eine richtig schicke Frau gewesen. Und dann ist sie unter den Zug gekommen. Wie konnte man nur um Himmels willen unter einen Zug kommen? War das dumm? Hatte damals die ganze Stadt drüber gesprochen. Marlene raffte mit einem vernehmlichen Seufzer die Folie zusammen, hielt nochmals kurz inne und sah sich um. Im Mondschein fiel ihr Blick auf einen zerrupften Reisigbesen, der in der Saalecke lehnte. Gut, musste sie nicht extra noch mal runter zum Wagen. Sorgfältig beseitigte sie alle Fußspuren. Schritt für Schritt machte sie sich auf den Rückzug. Auf der Treppe überkam sie heftiger Schwindel. Nach kurzer Pause und einem vorsichtigen Zug aus der eisernen Reserve ging es weiter. Sie lud die Sachen in den Wagen. Wohin nun mit dem Besen? Sie schleppte sich weiter bis zum Haus ihrer Mutter. Das Gartentor stand offen. Marlene lehnte das olle Ding an den maroden Zaun. Mondbeschienene Totenstille um sie herum. Als ob sie der einzige Mensch auf der Welt wäre.

             Erleichtert ließ sie den Motor ihres Lieferwagens an. Ein kurzer Moment des Bangens, aber angesprungen war er noch immer. Obwohl, die Batterie war auch schon wieder einige Jahre alt. Marlene Düsterbehn sang gegen das vernehmliche Nageln und Brummen des Motors an: »Der Frühling zündet die Kerzen an … in den grünen Kastanienkronen …« Der Wagen rumpelte über den Plattenweg Richtung Stralsund. Ihr ging es richtig gut. Sie hatte zwar noch einiges zu tun, aber das würde ihr in dieser Stimmung leicht von der Hand gehen. Wozu so ein ausgedienter Fischhandel nicht alles gut war! Dann duschen und zu Bett. Das hatte sie sich verdient. Als sie vor ihrem Hoftor in der menschenleeren Frankenstraße ankam, regnete es bereits wieder heftig. Bevor sie den mühsamen Aufstieg nach oben in ihre Wohnung anging, genehmigte Marlene sich eine Stärkung. Rotkäppchen-Sekt. Schmeckt wie Küsse von Thomas.