ANNA ESTCOURT

„Rosa und Blau? Das sind genau die Farben, die ich hier haben will! Wird man die in Stralsund kriegen können?“ Trudi hatte ihre Zweifel. Sie hielt es prinzipiell für ausgeschlossen, dass man überhaupt irgendetwas in Stralsund bekommen könne …

Nach „Elizabeth auf Rügen“ nun auch Elizabeth in Stralsund! „Anna Estcourt“, der erste umfangreiche, romantische Roman Elizabeth von Arnims aus dem Jahre 1901, schildert auf hinreißend amüsante Weise die Erlebnisse einer jungen Engländerin auf einem Gut nördlich von Stralsund: Anna Estcourt hat das Anwesen von ihrem deutschen Onkel geerbt und ist auf Anhieb in alles verliebt. Dort will sie zur Wohltäterin werden. Anna will bedürftigen Damen von Stand aus unverschuldeter Not helfen und ihnen ein neues gemeinsames Heim bieten. Ein Unterfangen, das sich bald als recht schwierig erweist … Natürlich spielen auch ein netter Nachbar, die weite pommersche Landschaft sowie die altehrwürdige Hansestadt Stralsund und deren Einwohner eine Rolle.

Elizabeth von Arnim (1866 bis 1941), Bestsellerautorin der Jahrhundertwende und heute wieder eine der meistgelesenen englischsprachigen Autorinnen ihrer Zeit. Ihr literarischer Erstling „Elizabeths Garten“ war ein Welterfolg. Sie veröffentlichte über 20, zumeist autobiographisch inspirierte Romane. Vorbild für das Gut Kleinwalde, das die junge Engländerin Anna Estcourt von ihrem deutschen Onkel erbt, dürfte so das Gut Nassenheide in der Nähe von Stettin gewesen sein. Nassenheide gehörte zum Besitz der Familie von Arnim, in die Elizabeth eingeheiratet hatte. Immerhin handelte es sich bei ihrem Gatten, Graf Henning von Arnim-Schlagenthin, um einen Enkel des Prinzen August von Preußen, seines Zeichens wiederum ein Neffe Friedrich des Großen.

Elizabeth von Arnim: Anna Estcourt
Titel des Originals: The Benefactress („Die Wohltäterin“)
Aus dem Englischen übersetzt von Inge Uffelmann, Bayreuth
Mit einem Nachwort versehen von Peter Hoffmann, Stralsund
1. Auflage der Lizenzausgabe Juli 2015
Copyright der deutschen Übersetzung 1995 by Ullstein Buchverlage GmbH, Frankfurt am Main/Berlin
608 Seiten, 34 Abbildungen unter Verwendung des historischen Leporellos „Album von Stralsund“
Kartoniert, 19 x 12,5x 4,5 cm (H x B x T)
ISBN: 978-3-941093-20-1

 

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     Stralsund, das eine über Deiche mit dem Festland verbundene Insel bildet, ist eine alte Stadt mit Giebelhäusern, uralten Kirchen und mit Straßen, die mit eigentümlich grobem Kopfstein gepflastert sind. Im Frühsommer, wenn das grüne Marschland rund um die Stadt mit Hahnenfuß übersät ist, kleine weiße Schäfchenwolken fast bewegungslos am Himmel stehen, das Vieh draußen auf der Weide grast, die Lerchen singen und die orangefarbenen und roten Segel der Schmacken der Fischer auf den schmalen Meeresgürtel zwischen Stralsund und der Insel Rügen buntkontrastierende Tupfen in das verschmelzende Blau von Himmel und Meer setzen, dann zeigt sich die Stadt von ihrer schönsten Seite. In dieser gesegneten Jahreszeit legt sich eine göttliche Frische und Helligkeit über das harte Strandgras und die gemeinen Feldblumen.
Die Luft ist voll von den Gerüchen der See. Die Sonne brennt auf die Stadt und das umgebende Flachland. Die Leute kommen aus ihren Häusern, in
denen sie die meiste Zeit ihres Lebens verbringen, stehen in den Torbögen und beklagen sich über die Hitze. Ein schwerer Karren poltert über das Kopfsteinpflaster – schon Minuten, bevor er in Sicht kommt, und noch Minuten, nachdem er vorübergefahren ist,

hört man in der Verschlafenheit des Städtchens das Geräusch der rumpelnden Räder. Ein ehrlicher Geruch nach Fisch und Teer hängt in der Luft, und ein Reisender mit poetischer Ader auf der Suche nach dem Pittoresken, der es mit seiner eigenen Bequemlichkeit nicht zu genau nimmt, wird unfehlbar begeistert sein, wenn er diese kleine Stadt im Monat Juni zum ersten Mal besucht.
     Doch im Winter und viel mehr noch in jenen doppelt düsteren Tagen zum Ende des Winters, wenn der Frühling schon erste Anzeichen seines Nahens hätte zeigen sollen, in den Tagen der heulenden Winde, der plötzlichen Regengüsse und der verspäteten Schneestürme, in diesen Tagen ist die Ebene nichts anderes als eine sich erstreckende Weite der Trostlosigkeit, in deren entferntester Ecke verloren eine alte Stadt hockt.
     Und an jenem Morgen, als Susie und ihre drei Begleiterinnen die Ebene durchquerten, zeigte sie sich von ihrer ödesten und trostlosesten Seite.
     »Was für ein tristes Land!«, rief Susie aus, während sie Meile um Meile hinter sich brachten und sich ihren Blicken noch immer nichts anderes bot
als die ewig gleiche Abfolge von flachen, gepflügten Feldern und Marschen und dazwischen ganz selten einmal ein winziges, wild schwankendes Kieferngrüppchen oder ein paar vom Wind bis zum Boden niedergebeugte Silberbirken. »Was für eine Weltecke – wie kann man nur hierherkommen, um hier leben zu wollen? Dein alter Onkel war wohl wirklich völlig übergeschnappt; zu glauben, dass du dich hier je niederlassen könntest! Das muss man sich mal vor-

stellen, dass jemand Geld ausgibt, um hier Land zu erwerben. Ich nähme nicht einmal eine Schubkarre voll davon, und wenn es geschenkt wäre.«
     »Nun, ich nehme viele Schubkarren voll von diesem Land«, erwiderte Anna. »Und ich bin sicher, Onkel Joachim hatte recht, hier Land zu kaufen, denn er hatte immer recht.«
     »O ja, es ist ja jetzt deine Pflicht, ihn über den grünen Klee zu loben. Vielleicht liegt der bessere Teil ja noch vor uns, aber bis jetzt ist mir unerfindlich, wie man aus diesem Ödland zweitausend im Jahr rausquetschen soll.«
     Der Blick aus dem Zugfenster bot an diesem Tag wahrhaftig nichts Anziehendes; doch Anna sagte sich, dass bei einem solchen Wetter jeder Ort auf Erden trostlos wirken müsse. Sie war viel zu glücklich in dieser ersten Welle der Unabhängigkeit, um sich durch irgendetwas die Stimmung verhageln zu lassen. Hatte sie nicht erst am Morgen dem Zimmermädchen in Berlin ein so reichlich bemessenes Trinkgeld für Dienste
gegeben, die nicht erbracht worden waren, dass sogar das Mädchen selbst gesagt hatte, das sei zu viel? Doch Anna wollte Wiedergutmachung leisten für die unendlich vielen Male, bei denen man von Hotels abgereist war, ohne dass Susie auch nur einen einzigen Penny Trinkgeld gegeben hatte. Und hatte sie nicht auch von Susie die Erlaubnis erbeten – und unverzüglich erhalten! – in Berlin die Fahrkarten für die ganze Reisegruppe bezahlen zu dürfen? Und war es nicht ein angenehmes, die Seele wärmendes Gefühl gewesen, Fahrkarten für andere Leute zu kaufen, statt sich von anderen Leuten eine Fahrkarte kaufen lassen

zu müssen? In Pasewalk, einem kleinen Städtchen auf halber Strecke zwischen Berlin und Stralsund, hatte der Zug zehn Minuten Aufenthalt gehabt. Anna hatte darauf bestanden, auszusteigen – trotz der Pfützen auf dem matschigen Perron. Im Erfrischungsraum hatte sie gekochte Eier, belegte Brötchen und Kuchen gekauft – kurz, alles, was wenig dazu angetan war, Susies Geschmack zu beleidigen. Außerdem hatte sie einen Stralsund-Führer erstanden, obwohl sie gar nicht in Stralsund blieben, und dazu noch ein paar Ansichtspostkarten, dabei verschickte sie niemals Ansichtskarten.
Mit Paketen beladen war Anna an den Zug zurückgekommen, und ihr Gesicht hatte vor kindlichem Vergnügen gestrahlt, eigenes Geld ausgegeben
zu haben.
     »Aber liebe Anna«, schalt Susie, doch da sie hungrig war, verspeiste sie in aller Seelenruhe ein Brötchen und erlaubte Letty desgleichen zu tun, obgleich sie sich erst zwei Tage zuvor lang und breit über die Vulgarität des Essens in einem Zug ausgelassen hatte.
      Und mit einem Mal war Susie in einer ausgesprochen leutseligen Gemütsverfassung. Trotz des Wetters freute sie sich darauf, das Gut zu sehen, von dem Onkel Joachim gemeint hatte, es sei ein angemessenes Heim für seine Nichte. Und da sie und Anna auf der einen Seite des Wagens und Letty und Miss Leech in der anderen Ecke saßen und niemand sonst das Coupé mit ihnen teilte, war sie weder durch die allzu große Nähe der Tochter verãrgert noch durch den Anblick speisender Mitreisender. Miss Leech, immer ihrer Pflichten eingedenk, machte das Beste aus

der fünfstündigen Reise und bemühte sich mit leiser Stimme, das neblige Dunkel der Erinnerung an den Unterricht des letzten Winters im Kopf ihrer Schülerin etwas zu erhellen. »Erinnerst du dich denn gar nicht an das, was Professor Smith dich gelehrt hat, Letty?«, fragte sie. »Schau, es drehte sich alles um genau diesen Teil Deutschlands. Findest du es denn nicht aufregend zu wissen, was sich hier abgespielt hat? Stralsund zum Beispiel, wo wir bald hinkommen werden, hat eine sehr turbulente und interessante Vergangenheit.«
      »Tatsächlich?«, gab Letty gelangweilt zurück. »Na, also meine Schuld ist das jedenfalls nicht,
Leechy.«
      »Nein, meine Liebe. Aber du solltest wenigstens versuchen, dich an die Lektionen zu erinnern. Hast du denn den Aufsatz vergessen, den du über
Wallenstein geschrieben hast?«
      »Ich erinnere mich, dass ich einen Aufsatz schrieb. Verflucht harte Arbeit, das.«
      »Aber Letty! Du sollst doch nicht verflucht sagen – das schickt sich nicht für eine Dame.«
      »Na und? Mama sagt es andauernd.«
      »Na ja. Weißt du nicht mehr, was Wallenstein sagte, als er Stralsund belagerte und feststellen musste, was für eine schwere Aufgabe das war?«
      »Ich nehme mal an, er wird auch gesagt haben: Verflucht harte Arbeit, das.«
      »Oh, Letty! Nein, es hatte mit Ketten zu tun. Nun, erinnerst du dich?«
      »Ketten?«, wiederholte Letty gedehnt und sah unendlich gelangweilt aus. »Mal ehrlich Leechy, erinnern Sie sich?«

       »Ja, daran erinnere ich mich, obwohl, das gebe ich zu, den größten Teil der Lektion habe ich auch vergessen.«
       »Also was fragen Sie mich dann, wenn Sie’s wissen, und wenn Sie wissen, dass ich es nicht weiß? Was hat er denn über die Ketten gesagt?«
       »Er hat gesagt, er werde die Stadt einnehmen, und wäre sie mit eisernen Ketten an den Himmel geschmiedet«, deklamierte Miss Leech dramatisch.
      »So ein Blödhammel!«
      »Still! Solche schrecklichen Wörter sagt man nicht! Wo lernst du so was bloß? Bei mir bestimmt nicht.« Miss Leech war todunglücklich, denn sie
hegte einen abgrundtiefen Abscheu vor der Vulgärsprache und war ganz außer sich, wie oft diese Form der Rhetorik aus Letty hervorbrach.
      »Also gut«, lenkte Letty ein, »war sie es?«
      »War sie was, meine Liebe?«
      »Na, an den Himmel gekettet.«
      »Die Stadt? Also hör’ mal, wie kann denn eine Stadt an den Himmel gekettet sein, Letty?«
      »Ja, und wieso hat er es dann gesagt?«
      »Er hat eine Metapher benutzt.«
      »Ach so!«, antwortete Letty, die keine Ahnung hatte, was eine Metapher ist. Da sie aber annahm, es handele sich um ein Gerät, das man bei Belagerungen einsetzt, zog sie es vor, nicht weiter nachzufragen.
      »Er war gezwungen, sich zurückzuziehen«, erläuterte Miss Leech, »und eine Unmenge gefallener Männer auf dem Schlachtfeld zurückzulassen.«
      »Arme Teufel! Hör’n Sie mal, Leechy«, flüsterte Letty. »Lassen wir’s gut sein mit der Geschichte, ja?

Erzählen Sie mir lieber von Mr. Jessup. Sie waren bis zu dem Punkt gekommen, wo er Sie zum ersten Mal Amy genannt hat.«