Eine unerhörte Geschichte – Herbert Lange, einer der übelsten Nazi-Verbrecher, aufgewachsen im Museumshaus Mönchstraße 38

Die Werbelinie der STRANDLÄUFER Verlagsbuchhandlung zeigt eine Gesamtansicht des Museumshauses Mönchstraße 38, in dem sich unser Lädchen befindet. Und dazu das Motto „Stralsund – eine Stadt voller Geschichte und Geschichten“, das sowohl das Verlagsprogramm widerspiegelt als auch auf das geschichtsträchtige Haus, das Eigentum der Deutschen Stiftung Denkmalschutz ist, verweist. – Als wir vor zehn Jahren, am 11. September 2014, dort die Verlagsbuchhandlung eröffneten, haben wir dies mit Bezug auf den Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September 2001 unter das Motto „wider die Barbarei“ gestellt. Von Beginn an haben wir unsere Buchhandlung als einen Ort der Demokratie und der Aufklärung verstanden. – Für die Teilhabe an Demokratie, für die eigene Meinungsbildung ist das Lesen Grundvoraussetzung.

Seinerzeit konnten wir nicht ahnen, mit welcher Geschichte wir uns zu unserem zehnjährigen Bestehen konfrontiert sehen. Am Freitag, 06. September 2024, titelte die Ostsee-Zeitung auf der Lokalseite: „Britischer Autor auf den Spuren von Stralsunds schlimmstem Massenmörder“. Darunter formatfüllend ein Foto des Autors Andrew Wallis mit verschränkten Armen vor dem Museumshaus, vor der geöffneten Ladentür der Buchhandlung. Sowie der einleitende Satz, dass dieser sich eigentlich nicht vor dem Haus fotografieren lassen wollte, um „nicht zu sehr mit Lange verbunden zu sein“, wie Andrew Wallis zitiert wird. Das Stralsunder Museumshaus – ein Unort, mit dem man besser nichts zu tun haben möchte? Zudem deutet der Artikel an, dass das Stralsund-Museum als Treuhänder des historischen Gebäudes die Auseinandersetzung mit dem Thema Herbert Lange verweigere: Es gebe keinen Hinweis in der Ausstellung, dass einer der übelsten Nazi-Schergen in diesem Haus „zwei Drittel seines Lebens verbrachte“, heißt es dort.

Nun handelt es sich bei Herbert Lange tatsächlich um einen der schlimmsten Nazi-Verbrecher. Er war führend mit der Umsetzung der Aktion T4 betraut, der sogenannten „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Herbert Lange war der erste Kommandant des ersten Vernichtungslagers Chelmno, der dort mit dem „Kommando Lange“ die sogenannte „Endlösung“ unter dem Einsatz von Gaswagen erstmals massenwirksam in die Praxis umgesetzt hat. Er ist damit zweifelsohne eine Schlüsselfigur des Holocaust. Chelmno als Standort der ersten Vergasungsanlagen wurde im Gedächtnis der Menschheit zum Synonym für Unmenschlichkeit. Dabei war Herbert Lange kein bloßer Schreibtischtäter, sondern ein Schlächter, der vor Ort gemordet hat. Späterhin war er in Berlin mit der Verfolgung der Verschwörer des gescheiterten Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 befasst, wofür er von Heinrich Himmler ausdrücklich belobigt wurde.

Dies alles beschreibt der Wissenschaftler und Autor Andrew Wallis in seinem Artikel „Herbert Lange – Stralsunds „vergessener“ Mann mit einem „unvergesslichen“ Leben““, erschienen in den „Stralsunder Heften für Geschichte, Kultur und Alltag“, herausgegeben im Verlag Edition Pommern vom Stadtarchiv Stralsund, der Kreisvolkshochschule Vorpommern-Rügen und dem Stralsunder Geschichtsverein e.V. Das Heft ist in unserer Buchhandlung erhältlich.

In einem Vortrag in der Kreisvolkshochschule präsentierte Andrew Wallis am 10. September 2024 seine Forschungsergebnisse in einem einstündigen Vortrag. Das Interesse war groß, der Saal vollbesetzt, die anschließende Diskussion nochmals aufklärend und wegweisend.

Nun ist Herbert Lange in Stralsund – im heutigen Museums- und Denkmalhaus Mönchstraße 38 – aufgewachsen, hat dort zwei Drittel seines Lebens – mithin seine prägenden Jahre – verbracht: ein Junge, ein junger Mann wie viele andere. Aufgewachsen in diesem Haus mit den gleichaltrigen Nachbarskindern Gerhard und Felix Gerson sowie Max Cohn, die zur gleichen Zeit in der Mönchstraße 31 und 37 wohnten und aufgrund ihres jüdischen Glaubens aus Stralsund deportiert und umgebracht wurden. Täter und Opfer in buchstäblich engster Nachbarschaft. Auch das macht das Haus Mönchstraße 38 zu einem Kristallisationspunkt von Geschichte.

Nicht zu leugnen ist die direkte persönliche Verbindung, die vom Museumshaus Mönchstraße 38 zu den übelsten Verbrechen des Dritten Reiches führt. Als Erstes kamen uns die eindringlichen Chelmno-Szenen in Claude Lanzmanns filmischer Dokumentation „Shoah“ in den Sinn. Wir haben unsere Frage, ob das Museumshaus durch den Fall Herbert Lange womöglich kontaminiert sei, mit Andrew Wallis diskutiert. Er verneinte: Wallis geht es vielmehr um Erinnerung und Gedenken, um die Wechselwirkung von Vergangenheit und Gegenwart. Darum, woran wir uns erinnern wollen. Und darum, was wir zu vergessen trachten.

Herbert Lange und seine Verbrechen gegen die Menschheit nicht zu thematisieren, dürfte sich allein schon wegen der historischen Relevanz dieses Nazi-Verbrechers verbieten. Gerade an einem öffentlichen Ort wie dem Museumshaus, das als Denkmal ausdrücklich dem Erinnern und Bewahren von Geschichte gewidmet ist.

Herbert Lange gehört zur Geschichte des Hauses Mönchstraße 38. Der Auftrag ist es, für unsere Zeit daraus zu lernen. Nicht zuletzt angesichts der heutigen politischen Herausforderungen. Wir sehen dies als Verpflichtung und werden versuchen, unseren Beitrag dazu zu leisten: An diesen Ort gehört eine Buchhandlung. Dieser Überzeugung sind wir nun mehr denn je.

„Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, Dass, wollt‘ ich nun im Waten stille stehn, Rückkehr so schwierig wär‘, als durch zu gehn.“

William Shakespeare (1564 – 1616), Macbeth, um 1608, Erstdruck 1623, hier übersetzt von Friedrich Schiller, 1800. 3. Aufzug, 4. Szene, Macbeth.

Was ist Herbert Lange widerfahren? Wie wurde er zu einem Menschen bar jeder Moral? Andrew Wallis führte in seinem Vortrag diesen Verweis auf Shakespeares „Macbeth“ an.